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Hermann Kern

 

ZEIT-RÄUME

 

Hinweise auf die Arbeit Bernhard Leitners 

 

Metaphern sind abgeleitet; der bildhafte Sprachgebrauch folgt meist einem Seh-Erlebnis. Metaphorisch sprechen heißt also, ein Bild aus der visuellen Sphäre in die verbale Sprache zu übersetzen. Dabei wird die Einmaligkeit, die konkrete Eindringlichkeit des Bildes aufgegeben zugunsten der Erweiterung von Anwendungs- und Bedeutungs-Horizont des sprachlichen Instrumentariums. Eigentliches Erleben wird ersetzt durch uneigentliche Sprache.

 

Bei Leitner liegen die Dinge umgekehrt. Wenn er sich seit 1968 damit beschäftigt, immaterielle Räume durch Ton-Bewegungen zu schaffen, Tonmaterial raumplastisch als strukturierende Ortungspunkte, als Kraftlinien und Impulsflächen zur Gestaltung bioakustischer Erlebnisräume einzusetzen, dann mutet das an wie eine Verwirklichung alter Sehnsüchte, wie eine erstmals geglückte Rückübersetzung gängiger Metaphern in konkrete Erfahrung. Ich denke an Goethes Wort von der Architektur als einer "verstummten Tonkunst" (1), in dem er die Formulierung Schellings von der Baukunst als einer "erstarrten Musik" aufgriff (2). Oder Novalis: "Sollte nicht alle plastische Bildung, vom Krystall bis auf den Menschen, nicht acustisch, durch gehemte Bewegung zu erklären seyn. Chemische Acustik" (3).

 

Was in diesen Zitaten durchklingt, ist die Ahnung der raumformenden Kraft von Klängen, die Einsicht in Form als Ergebnis, als Spur von Gestaltungsprozessen, und der Wunsch, die Beweglichkeit und Lebendigkeit dieser Abläufe auch im fixierten Ergebnis noch nacherleben zu können.

 

Bewegte Räume: diese utopische Vision widerspricht so gut wie allen Vorstellungen, die wir von Architektur haben, sie widerspricht dem üblichen Bedürfnis nach statischem Schutz, nach Festigkeit und Verläßlichkeit, wie es ja in den hergebrachten Regeln der Baukunst seinen Niederschlag gefunden hat. Und doch bietet uns Leitner bereits vielfältige Möglichkeiten für die Erfahrung solcher Räume; konkrete Erfahrungen, in denen er auch bisher so abstrakte Vorstellungen wie Zeit und Raum, ihr schwer vorstellbares Aufeinander-Bezogensein mit Anschauung füllt. Raum ist nicht mehr die leere Hülle für Gegenstände, abstrakter Platz für Bewegungen (4); Zeit nicht nur die bloße lineare Aufeinanderfolge von Zeit-Punkten und damit eigentlich von Zeitlosigkeiten. Raum ist nunmehr ein pulsierendes Erfahrungsfeld, geschaffen durch Bewegung von Tönen, modifiziert durch Bewegung des aufnehmenden Menschen – Bewegung (5) als raumschaffender zeitlicher Vorgang; Raum als Zeit-Raum.

 

Auch hier hilft uns die Intuition von Novalis beim Verständnis weiter: "Raum und Zeit entstehen zugleich und sind also wohl eins wie Subjekt und Objekt. Raum ist beharrliche Zeit, Zeit ist fließender, beharrlicher Raum; Raum Basis alles Beharrlichen, Zeit Basis alles Veränderlichen ... Ein durchdrungner Raum ist ein Zeitraum. Eine durchdrungne Zeit eine Raumzeit . .. Der Raum als Niederschlag aus der Zeit - als notwendige Folge der Zeit ... Zeit ist innerer Raum - Raum ist äußere Zeit" (6).

 

Sehen wir uns etwas genauer an, wie Leitner arbeitet. Er benützt Lautsprecher, die er für seine verschiedenen Erlebnisräume in unterschiedlicher Zahl und Anordnung gruppiert - vertikal, horizontal, diagonat als würfelförmige Einhüllung des Erlebnis-Mittelpunkts etc. (7). Ihre optische Präsentation entspricht der auf Wesentliches reduzierten, logischen und lapidaren Funktionalität eines Architekten, der als Architektur-Historiker über die Architektur Ludwig Wittgensteins gearbeitet hat (8). Je nach Charakter des Raums werden die Lautsprecher mit unterschiedlichen Tönen beschickt - etwa mit Schlag- oder Zischel-Geräuschen, Cello- oder Horn-Tönen etc., oft elektronisch verfremdet. Ein Computer regelt Ort, Dauer und Lautstärke eines Tones. Im Unterschied etwa zum herkömmlichen, gewissermaßen statischen Crescendo der Musiker - Anwachsen der Lautstärke aus einer stationären Tonquelle - kann Leitner ein gerichtetes Crescendo produzieren, den Ton über eine Reihe von Lautsprechern schicken und ihn gleichzeitig lauter werden lassen - der Raum gerät in Bewegung. Ebenso können Töne ziehen, leiten, federn, schieben, stoßen, wiegen, drücken, schwingen, heben, senken, öffnen, schließen, strecken, verengen etc. Aufnahmeorgan ist nicht nur das menschliche Ohr, sondern der ganze Körper (9). Die Erfahrung ist direkt körperlich, ganzheitlich, und bietet deshalb auch für musiktherapeutische Anliegen überraschend fruchtbare Perspektiven. Die Mehr-Dimensionalität des Werks - optisch, akustisch, Stimulierung des Körpers durch Vibrationen - entspricht einem verbreiteten Bedürfnis der Zeit nach Synthese, Einheit und Ganzheit (10).

 

Aus diesen so vielfältig aufgenommenen Impulsen bildet das menschliche Sensorium sich einen Hör und Spür-Raum - nicht nur den beschränkten Ton-Raum der Musik (Höhen-Unterschiede), sondern einen veritablen dreidimensionalen Raum in Bewegung, gewissermaßen also die Erfahrungswirklichkeit von vier Dimensionen (11). Indem Leitner solche Räume durch Klänge gestaltet, schafft er "Elemente eines akustischen Weltbilds", wie Hans Kayser, der verdienstvolle Neubegründer der harmonikaien Naturphilosophie, im Jahre 1932 sein Buch "Der hörende Mensch" untertitelte; ein akustisches Weltbild als dringend notwendige Korrektur und Ergänzung unserers verbal-haptisch-visuellen Weltbilds, gegen dessen Einseitigkeit und Unzulänglichkeit auch der bei weitem noch nicht angemessen gewürdigte Philosoph Hermann Friedmann (12) zu Felde gezogen ist.

 

Nun wird man einwenden wollen, daß solche musikalische Raum-Gestaltung so neu ja auch wieder nicht sei - unter Hinweis auf die Antiphonie (Wechselgesang) bereits im ambrosianischen Choral, auf mehrchöriges Musizieren des 16. Jahrhunderts in San Marco von Venedig (Adriaen Willaert; Cipriano de Rore; Andrea Gabrieli; Giovanni Gabrieli) (13), Doppelchörigkeit etwa in J. S. Bachs Matthäus-Passion, Echo-Wirkungen etc.; und tatsächlich hat Karlheinz Stockhausen vielfältige Impulse dieser Art zusammengefaßt in seinem "Kugelauditorium" für die Expo 1970 in Osaka (14), wo die Zuhörer die speziell für diesen Raum komponierte Musik durch eine Vielzahl von Lautsprechern aus allen Richtungen vermittelt bekamen. Allerdings ist dieser Ansatz nicht mit der Arbeit Leitners vergleichbar. Stockhausen und seinen Vorgängern ging es um ein innermusikalisches Problem, um Bewegung von Klängen im Raum als zusätzlichen musikalischen Parameter - als Ergänzung etwa zu Klangfarbe, Lautstärke, Dauer etc. des Hör-Ereignisses. Bei Leitner geht es dagegen um Grundsätzlicheres; ihm geht es nicht um innermusikalische Gestaltungsmöglichkeiten, sondern um das Ausloten elementarer Erfahrungen: was ist das eigentlich, dieser Raum, der nicht als statisches Gehäuse vorgegeben ist, sondern als geformte Zeit entsteht, lebt und vergeht: Kraftlinien als Raumlinien, Raum als aktuelle Spannung, Raum als Zeitgestalt (15), als Projektion vielfältiger menschlicher Impulse, die erst durch äußere Spiegelung, durch die Möglichkeit anschaulicher Erfahrung so richtig verständlich werden. Zeit-räumliches Geschehen außerhalb des Menschen als Entsprechung zu inneren Vorgängen, also auch als Mittel für deren Erforschung.

 

"Forschung" ist überhaupt einer der Zentralbegriffe für die Arbeit Leitners. Er legt Kunstwerke vor, gleichzeitig aber ein universell - auch von anderen, z. B. Musikern, Poeten, Therapeuten - einsetzbares Instrumentarium für Selbsterfahrung. Insofern ist er vergleichbar mit Franz Erhard Walther, einem der wichtigsten deutschen Künstler, der in seinem 1. Werksatz (16) eine dreidimensionale multifunktionale Grammatik vorlegte; und die Arbeit des Benutzers mit diesen Objekten könnte man eine empirische, angewandte Beziehungs-Wissenschaft nennen - erforscht, bewußt gemacht werden die Beziehungen des Benutzers zu sich selbst, seinen eigenen unbewußten Impulsen, zu seinem Körper, zu anderen - die Einführung der sozialen Dimension in das Kunstwerk ist für F. E. Walther so charakteristisch wie für Bernhard Leitner, der ja auch in Paris 1983/84 einen Klangraum als "Geometrie eines Dialoges" präsentierte, also als Thematisierung und Formalisierung sozialer Beziehungen (17).

 

Mit seinem Forschungsdrang, in der Verbindung von Atelier und Laboratorium erinnert Leitner auch an die Haltung Leonardos - und tatsächlich kann eine der schönsten Zeichnungen des RenaissanceGenius zur Charakterisierung der Leitnerschen Vorhaben herangezogen werden. Wenn Leonardo nach dem Vorbild Vitruvs den menschlichen Körper in Kreis und Quadrat einbeschreibt (18), wenn er den Menschen als Maß aller Dinge seinen Umraum messen, also bestimmen, schaffen und empfinden läßt, dann stellt dies eine genaue Entsprechung dar zur Entstehung, Funktion und Bedeutung der Leitnerschen Zeit-Räume.

 

ANMERKUNGEN 

 

1    März1827; Maximen und Reflexionen, Nr. 776; in: "Goethes Werke" Hamburger Ausgabe in 14 Bänden,ed. Erich Trunz, 10. Auf 10 München 1982, VoL 12, p. 474. VgL hierzu auch Herbert von Einem: ;Man denke sich den Orpheus'. Goethes Reflexion über die Architektur als verstummte Tonkunst", in: Vier Vorträge zum Goethe-Jahr 1982,München 1982 (Bayerische Akademie derSchönen Künste, pp. 89-115)

 

2    Vorlesungen über Philosophie und Kunst, 1802/03, in: Friedrich von Schelling: "Sämtliche Werke", Stuttgart 1856, VoLl, p. 578 und 593

 

3    "Das Allgemeine Brouillon. Materialien zur Enzyklopädistik 1798/99", Fragment Nr. 376, in: Novalis: "Schriften", ed. Paul Kluckhohn, Richard Samuel, 4 VoL, VoL 111, 2. Auf 10 Stuttgart 1968, p. 308

 

4    vgL zu den vielfältigen Vorstellungen, die man sich vom Raum machte, die Arbeiten von Alexander Gosztonyi: "Der Raum. Geschichte seiner Probleme in Philosophie und Wissenschaften", 2 VoL, Freiburg/München 1976 (Orbis Academicus 1/14); Max Jammer: "Problem des Raumes. Die Entwicklung der Raumtheorien", Darmstadt 1960; Bernd Krämer: "Der Raumbegriff in der Architektur - eine Analyse räumlicher Begrifflichkeit und deren Veranschaulichung am Beispiel des Weges und der Schwelle", Hannover 1983

 

5    hierzu weitere Ausführungen in meinem Essay über "Zeit-Bilder. Zur Bedeutung von Bewegung in der Malerei des 20. Jahrhunderts", in Kat. "Dimension IV. Neue Malerei in Deutschland", ed. Jürgen Harten, Dieter Honisch, Hermann Kern, Berlin/München/ Düsseldorf 1983/84, pp. 43-57

 

6    Novalis, "Sämtliche Werke", ed. Ernst Kammitzer, 4 VoL, München 1924, VoL 111, Fragmente 451,452,454,456, pp. 184-186

 

7   zur Beschreibung der einzelnen Arbeiten und ihres Funktions-Ablaufs vgl. Bernhard Leitner: "Ton:Raum. Sound:Space", Köln 1978; Kat. "Bernhard Leitner: "Ton:Raum. Arbeiten 1971-1981", Wien 1981

 

8    Bernhard Leitner: "Die Architektur von Ludwig Wittgenstein. Eine Dokumentation", HalifaxILondon 1973

 

9   vgl. Arnold Keyserling "Chakrale Musik", Wien 1972; Peter Michael Hamel: "Durch Musik zum Selbst. Wie man Musik neu erleben und erfahren kann", Bern/MünchenlWien 1976; Joachim Ernst Berendt: "Nada Brahma. Die Welt ist Klang", Frankfurt 1983

 

10   zum Verhältnis zwischen Klang, Farbe und Form vgl. u. 0, Felix Auerbach: "Tonkunst und Bildende Kunst vom Standpunkte des Naturforschers. Parallelen und Kontraste", Jena 1924; Oskar Rainer: "Musikalische Graphik. Studien und Versuche über die Wechselbeziehungen zwischen Ton- und Farbharmonien", WienlLeipziglNew York 1925; Theodor W. Adorno: "Ober einige Relationen zwischen Musik und Malerei. Die Kunst und die Künste", Berlin 1967 (Akademie der Künste); Carl Loef: "Farbe, Musik, Form. Ihre bedeutenden Zusammenhänge", GöttingenlFrankfurtlZürich 1974; Franzsepp Würtenberger: "Malerei und Musik. Die Geschichte des Verhaltens zweier Künste zueinander - dargestellt nach den Quellen im Zeitraum von Leonardo da Vinci bis John Cage", Frankfurt/BernlLas Vegas 1979; Rene Block(ed.): "Für Augen und Ohren. Von der Spieluhr zum akustischen Environment. Objekte, Installationen, Perfomances", Berlin 1980 (Kat. Akademie der Künste); Suzanne Delehanty (ed.): "Soundings·, Purchose 1981 (Kat. Neuberger Museum, State University of New York, College at Purchose); neuerdings auch Harald Szeemann (ed.): "Der Hang zum Gesamtkunstwerk. Europäische Utopien seit 1800", Zürich 1983 (Kat. Kunsthaus Zürich).

 

11   mit der Visualisierung zeitlicher Vorstellungen in dreidimensionalen Strukturen - also gewissermaßen vierdimensionaler Architektur - habe ich mich beschäftigt im Katalog meiner Ausstellung über "Kalenderbauten. Frühe Astronomische Großgeräte aus Indien, Mexico und Peru·, 2. Aufl. München 1976 (Die Neue Sammlung) 

 

12   Hermann Friedmann: "Die Welt der Formen. System eines morphologischen Idealismus", 2. Aufl. München 1930; "Wissenschaft und Symbol. Aufriß einer symbolnahen Wissenschaft", München 1949

 

13    angeregt durch den Umstand, daß die Markuskirche zwei einander gegenüberliegende Orgeln besaß

 

14   vgl. Karlheinz Stockhausen: "Musik im Raum", in K.St.: "Texte zur elektronischen und instrumentalen Musik",Köln 1963, VoLl: "Aufsätze 1952-1962 zur Theorie des Komponierens", pp. 152-175; "Osaka-Projekt. Kugelauditorium EXPO 70", in K. St. "Texte zur Musik 1963-1970, VoLlII: "Einführungen und Projekte. Kurse. Sendungen. Standpunkte. Nebennoten", ed. Dieter Schnebel, Köln 1971, pp. 153-184

 

15   so der Titel einer Schrift von Friedrich Neumann: "Die Zeitgestalt. Eine Lehre vom musikalischen Rhythmus", 2 Vol. Wien 1959 

 

16    1963-1969, bestehend aus 58 Objekten, die erst durch die Arbeit des Benutzers mit ihnen zur eigentlichen Existenz-, d. h. Wirkungsebene kommen; vgl. den von mir besorgten Band: "Franz Erhard Walther. Diagramme zum 1. Werksatz". München 1976 (Kunstraum München), mit komplettem Werkverzeichnis; dort auch pp. 7-23 meinen Essay über "Zeit, Energie, Prozeß, Denken, Sprache - einige Aspekte der Arbeit von Franz Erhard Walther"

 

17   In der Ausstellung "Electra. L'electricite et I'electronique dans I'art au XXe siede", Musee d'Art Moderne de 10 Ville de Paris


18   Proportionen des Menschlichen Körpers nach Vitruv; Federzeichnung im Format 34 x 24,5 cm; Nr. 228 der Galleria dell'Accademia di Venezia