Über die Körperlichkeit des Hörens
Bernd Schulz im Gespräch mit Bernhard Leitner
Saarbrücken 2002
Schulz:
Ein Kritiker hat geschrieben, es sei schwer, über Leitners Arbeiten zu reden. Ich denke, es ist schwer, über Kunst überhaupt zu reden, weil sie die Phänomenologie der Phänomene zum Gegenstand hat, aber vielleicht ist es in der Klangkunst noch ein bisschen schwieriger als in der visuellen Kunst. Wenn man die Augen schließt und sie wieder aufmacht, ist das Bild immer noch da. Bei der Klangkunst hat sich die Erscheinung verändert. Wir haben es mit einer Zeitkunst zu tun. Wir werden trotzdem versuchen, über Ihre Arbeit zu reden, und beginnen am besten bei Ihrer Biographie. Sie haben Architektur studiert, sind aber als junger Mensch nach dem Studium – nicht wie es üblich ist – in ein Architekturbüro gegangen, sondern haben sich mit dem sehr ephemeren Material der Klänge beschäftigt. Sie sind nach New York gegangen. Einerseits haben Sie – das war wohl auch Ihr Brotberuf in den ersten Jahren – in der Stadtplanung gearbeitet und andererseits Klangforschung betrieben. Was war eigentlich die Motivation?
Leitner:
Wie eine Idee entsteht, ist schwer nachzuvollziehen. Die Idee ist da, und man kann es dann sozusagen nach rückwärts aufrollen und vielleicht einige Spuren sichern, aber wie es wirklich dann zur Idee kommt – und es war eine Idee, die ich 1968 eigentlich gleich bei der Ankunft in New York hatte – sich wirklich konkretisiert als Arbeitsidee, ist nicht ganz so leicht zu sagen, aber es ist klar, daß einige Spuren natürlich in Europa gelegt wurden. Da ist einerseits das Architekturstudium, das Sie erwähnt haben. Zentrum von Architektur ist der Raum im weitesten Sinne, vom engen körperbezogenen Raum bis zu den großen Stadtlandschaften. Eine anderes Gebiet, die mich während meiner Studienzeit sehr interessiert hat, ist die moderne Musik. Das konnte man in Wien sehr gut nachvollziehen und vor allem die räumlichen Experimente der modernen Musik. Kagel mit im Raum verteilten Musikern, Stockhausens Stücke für drei Orchester usw. - Eine anderes Gebiet, die mich sehr fasziniert hat, war der Tanz, sowohl der klassische als auch der moderne Tanz, eben die Gestaltung von Raum zwischen den verschiedenen Tänzern und Tänzerinnen durch Choreographie. Das sind eigentlich bewegte Architekturen. Die Gestik des Raumes als eine der Grundideen vom Tanz, das hat mich sehr fasziniert, und selbstverständlich die Kunst des 20. Jahrhunderts mit den ganzen Tendenzen:. Z.B.die Abstraktion, in die Drei- und Vierdimensionalität, da ist die Zeitkunst schon in vielen Werken angedeutet bzw. schon vorweg genommen. Letzter Punkt, der sicher auch wichtig war, war einfach das Wissen, dass wir erstmals in der Geschichte Klang und Ton so exakt produzieren und reproduzieren können, dass es als Material verwendbar ist. Ich brauche keinen Instrumentalisten, ich brauche keinen Aufführungsort, keinen Konzertsaal, ich habe Klang als Material zur Verfügung und das war eigentlich die Idee, Klang als Baumaterial.
Schulz:
Diese Forschungen der 70er-Jahre, die in ihrer Systematik ziemlich deutlich und umfangreich dokumentiert worden sind durch Fotomaterial, Zeichnungen, durch Schriften, die Sie damals verfasst haben. Diese Dokumente sagen relativ wenig über das Klangmaterial aus, das Sie damals benutzt haben. Was haben Sie damals für Klänge benutzt?
Leitner:
Ich sage immer, das ist mir ganz wichtig, dass mein Ausgangspunkt in der Arbeit der Raum ist, nicht so sehr der Klang. Man kann es letztlich nicht trennen. In der jetzigen Situation ist natürlich der Klang ein ganz entscheidendes, wichtiges Element. Ursprünglich habe ich sehr einfache Klänge verwendet, geschlagene, elektronische Klänge, nicht rhythmisiert, natürlich keine Melodien, gestrichene Töne, geblasene Töne ohne jede Modulation, in bestimmten Frequenzbereichen, auch nicht rhythmisiert, , nur um mit diesem Material eine Bewegung im Raum, eine Tonlinie hören zu können. Das waren perkussive Klänge, kurze Klangereignisse, die ich im Raum bewegen konnte, und die mir das Hören von Raum überhaupt erst ermöglicht haben. Das Gehirn, das ist mir ziemlich schnell klar geworden, wird sofort abgelenkt, wenn musikalische Parameter dabei sind. Es war mir wichtig, dass sie nicht musikalisch sind, diese Klänge. Wenn das Gehirn eine Melodie oder eine rhythmische Neugierde, eine wiederkehrende Struktur erkennt, dann ist es nicht interessiert am Raum. Es war mir ziemlich klar, das war auch der Grund für diese Forschungsarbeit, dass ich eigentlich eine neue Sprache entwickeln will, ein neues Vokabular, indem ich aus der Klangwelt, aus der Zeitkunst das Material, also die Töne nehme und aus der eher statischen, aus der gebauten oder der skulpturalen Kunst die tradierten Raumbegriffe, und es war mir klar, wenn ich die beiden zusammen mische, dass sich ein völlig neues Vokabular ergibt, das nochnicht vorhanden war. D.h., es war notwendig, zunächst theoretisch sich darüber den Kopf zu zerbrechen, was ist eine Crescendo-Linie im Raum, die durch oder um den Körper geht, im Gegensatz zu einem Crescendo-Effekt in der Musik. Das sind zwei ganz verschiedene Sachen. Und das musste ausprobiert werden. Was ist eine Linie, die über 20 Meter anschwillt, und ich laufe dieser Linie entgegen oder sie führt mich in eine bestimmte Richtung. Ein völlig neues, aus zwei Sprachen zusammengefügtes Arbeitsvokabular für Raum und Klang plus Körper natürlich.
Schulz:
Die Physiologie des Hörens ist heute sehr gut erforscht. Die Mediziner sagen, es gab geradezu revolutionäre Entdeckungen in den letzten 20 Jahren. Wenn man sich solche Veröffentlichungen anschaut, dann wird man an Dinge erinnert, die man aus dem Biologieunterricht kennt. Das Ohr mit dem dahinter stehenden System: Trommelfell, Hammer, Amboss, Kochlea, Hörnerv usw. Natürlich weiß man auch heute viel über die Verarbeitung von Reizen im Gehirn, aber dass unser ganzer Körper bei der Wahrnehmung von Klängen und Geräuschen eine so große Rolle spielt, das ist doch eigentlich eine Entdeckung, die etwas Besonderes darstellt und natürlich für die gesamte Klangkunst sehr wichtig ist. Wie sind Sie eigentlich darauf gekommen? War das eine Entdeckung, wo es einem plötzlich wie Schuppen von den Augen fällt oder war das eine Arbeitshypothese bei Ihren Forschungen?
Leitner:
Eine Arbeitshypothese war das sicher nicht, weil ich das ja nicht wusste. Ich habe einige Bücher gelesen, aber die haben immer das Gleiche gesagt. Die Physikbücher sagen, der Ton breitet sich kugelartig aus. Ich wollte aber eine Linie ziehen und habe das austesten müssen. Natürlich geht das, je nachdem, wie schnell man die Linie zieht und mit welchem Material. Und dann hat mich interessiert, wie ist der Körper in Klangbewegungen eingebunden. Da ist mir doch ziemlich schnell klargeworden, dass ich einen Klang, der unter mir durchgeht, mit den Fußsohlen höre, dass ich mit der Schädeldecke höre, dass – und das war eigentlich das Entscheidende – Grenzen von Klangräumen auch durch den Körper gehen können, dass also der Körper nicht etwas ist, das vis-a-vis oder auf der anderen Seite dieser ganzen Überlegung steht, sondern mittendrin, und die Grenze kann durch den Körper gehen. Der Raum kann sich bis in den Körper hindurch ziehen. Das ist das Interessante an der Arbeit mit der Akustik, dass völlig neue Raumbegriffe durch das erweiterte Hören, das Körperhören sich auftun. Das hat mich dann sehr fasziniert, bis zu Arbeiten, wo der Klang im Körper bleibt und sich im Körper bewegt, wie auf der Tonliege, dass man einmal oben hört mit dem Oberkörper und einmal mit den Unterschenkeln.
Schulz:
Von den frühen skulpturalen Arbeiten ist gerade die Tonliege bekannt geworden, auch der Kubus, der auf der documenta 7 gewesen ist. Sie sind sogar in Ihren Forschungen so weit gegangen, dass Sie sich Physiologen, Mediziner mit herangezogen haben. Die Liege wurde in Bonn getestet. Es ist eine statistisch relevante Zahl von Leuten getestet worden. Es sind keine Nebenwirkungen bekannt geworden, aber durchweg ist eine Vertiefung der Entspannung zu verzeichnen gewesen. Sie haben diese Linie nicht weiter verfolgt. Es wäre ja auch denkbar gewesen, die Sache kommerziell auszunutzen, Tonliegen zu bauen für den gehobenen esoterischen Bedarf.
Leitner:
Das wollte ich natürlich nicht. Mich hat interessiert, dass Mediziner auf mich zugekommen sind, das war nach der documenta. Sie waren neugierig. Prof. Ott, Prof. Linke von der Universitätsklinik in Bonn haben mit 60 Personen in präoperativen und postoperativen Situationen die Tonliege ausgetestet, jeweils 20 Minuten. Es wurde aber gesagt, es ist eine künstlerische Sache, es wurde nicht als Pille verkauft. Das war mir auch sehr wichtig. Das Interessante ist, dass man mit Thermo-Visionsbildern genau feststellen konnte, wo der Ton in den Körper eindringt. Über eine gewisse Zeitperiode erwärmt sich diese Stelle, wie sich der ganze Körper durch das Fließen von Klang erwärmt. Das ist schon sehr faszinierend, wie sehr Akustik, also Schallwellen physikalisch gesagt, in unserem Körper Veränderungen hervorrufen. Das tun sie ja die ganze Zeit, nur wissen wir es nicht. Ich lasse die ganze emotionale Dimension von Klang weg, ich rede nur von den physikalischen Aspekten, dass Schallwellen auf uns treffen, in uns eindringen, sich in uns bewegen, und natürlich mit gewissen Frequenzen auf Organe, ihre Spannungen und Strukturen Einfluss nehmen. Das ist uns alles unbewusst. Jede Sprache, die ich mit jemand anderem austausche, macht dasselbe. Sie dringt in den Körper ein. Sie ist nicht etwas, das auf das Gehirn gerichtet ist, sie ist auf den Körper gerichtet. Deswegen ist eine tiefe sonore Sprache angenehmer, das hat nichts mit dem Wohlsein des Gehirns zu tun, sondern das wird vom Körper so aufgenommen. Was wir im Gesang als Kunstform kennen. Jede Sprache, jeder Dialekt hat mit Körperlichkeit zu tun. Was mich da besonders interessiert hat, war natürlich, dass eine wissenschaftliche Forschung von einer künstlerischen Forschung ausgeht und nicht umgekehrt. Es war sehr oft der Fall, dass Künstler in ihrer Arbeit eine wissenschaftliche Untersuchung reflektieren und oft missverstehen und sich wissenschaftlich auf sehr unsicherem Terrain bewegen.
Schulz:
Es gibt die These, dass unser Gehirn zumindest in bestimmten Arealen ganz bestimmte Grundstimmungen hat, im physikalischen Sinne eigene Schwingungen, Takte, mit denen das Gehirn arbeitet. Man denke an La Monte Young mit seiner Dauertonästhetik, mit der Idee, dass man mit von außen kommenden Klängen oder Klangräumen gewisse mentale Zustände wenn nicht erzeugen, so doch ihnen entsprechende Atmosphären schaffen kann, die das verstärken können. Haben Sie in dieser Richtung geforscht oder auch nur gedacht, um so etwas auch nutzbar zu machen für Ihre Arbeit?
Leitner:
Zunächst, in den ersten vier, fünf Jahren der Untersuchungen und Forschungen, war das natürlich kein Ansatz meiner Arbeit. Das war eigentlich phänomenologisch, analogisch, faktisch, analytisch. Dass ich einen Zustand oder mentale Veränderungen hervorrufen wollte, kam mir damals nicht in den Sinn. Es ist in der Entwicklung der Arbeit und auch in der Entwicklung der Ästhetik, auch im Wissen, auch in der größeren Komplexität späterer Arbeiten selbstverständlich, dass auch die anderen Aspekte des Hörens, nicht nur die physikalischen, sondern die kognitiven, die emotionalen, das Hörenwollen die ganze Körperlichkeit des Hörens in ihrer Komplexität natürlich eine Rolle spielen, zum Teil auch bewusster – soweit ich das eben kann – in die Arbeit mit eingebracht werden.
Schulz:
Ich möchte noch einmal zurückkommen auf das Klangmaterial, das Sie verwenden oder herstellen. Sie haben Stockhausen und Kagel erwähnt. Gerade Stockhausen war wichtig mit seinem elektronischen Studio. Es ist in dieser Zeit die utopische Vorstellung entstanden, mit modernen Analyseverfahren Klänge auseinander nehmen zu können und auf elektronischem Wege jedes beliebige Material herstellen zu können. Diese Utopie hat sich als nicht realisierbar erwiesen, bzw. man kam sehr schnell in zu komplexe Welten hinein. Von daher arbeiten sehr viele Klangkünstler mit Material, das bereits eine hohe Komplexität besitzt. Man ist auch wieder zurückgekommen auf Instrumente, wie sie die Musikkultur uns überliefert hat, weil sie reiche Obertonspektren haben oder auf Naturklänge, die ja auch ein ungeheurer reiches Spektrum zeigen. Wie ist da Ihre Erfahrung und vor allem: Wie ist ihr Verhältnis zu den so genannten Naturklängen, die sie ja auch in bestimmten Installationen verwenden?
Leitner:
Mich hat damals in meinen Experimenten das Räumliche interessiert. Varese hat mich sehr interessiert. Schon auch, weil er den Klang anders denkt, Klang als räumliches Material, „son spatial“ nennt er das. Das hat mich fasziniert, dass man selbst den Inhalt des Klanges anders denkt, und da war sicher Varese allen anderen voraus, weil er etwas anderes wollte mit den Klängen.
Ich habe eigentlich fast immer mit klassischen Instrumenten gearbeitet, nicht direkt oder selbst, sondern habe mit Musikern zusammengearbeitet, die experimentierfreudig waren, die mit mir zusammen eine Art Klangbibliothek für mich hergestellt haben, sei es mit verschiedenen Arten, eine Bassklarinette anzublasen. Fünf verschiedene Arten: mit Luft, ohne Luft, mehr Luft, länger gehalten, weniger lange gehalten. Ein wunderbares Material, aber es kommt alles darauf an, wie man das Instrument spielt. Sie haben die Obertöne erwähnt, die ganze Reichhaltigkeit. Das Gleiche gilt für den Kontrabass und für das Schlagzeug, das ist alles so reich, das Material, auf das wollte ich nie verzichten.
Naturmaterial interessiert mich mehr und mehr. Ich habe in der Nähe meines Ateliers vor einigen Jahren ein Maisfeld gehabt, das war wirklich eine Entdeckung. Das ist wirklich ein Material! Der Wind erzeugt mit dem Maisfeld Räume in dem Feld. Das ist ein Material, was sich jeden Tag ändert. Im Frühjahr ist es weich und samtig, es wird immer härter, und im Herbst, wenn sie dürr sind, diese Maisfelder, dann rattert und knattert es wie eine Raspel. Da habe ich durch die Veränderung, durch Regen und durch das Austrocknen im Naturmaterial selbst eine wunderbare Entwicklung gesehen, die wir natürlich nie nachvollziehen können. Das interessiert mich sehr. Ich will es gar nicht nachahmen. Auch das Wasser hat etwas Hochinteressantes. Dass es immer anders ist, das regt das Gehirn an, stimuliert unsere Synapsen und es ist immer gleich, das beruhigt. Diese Doppelbedeutung von gleichbleibend, was uns absolut beruhigt, und doch immer anders ist, ist natürlich ein Ideal, das man versucht, nachzumachen. Das macht man mit aleatorischen Formeln oder mit anderen,Gestaltungsmitteln, um eine Lebendigkeit und Komplexität in das Material hineinzubringen.
Schulz:
Es könnte vielleicht so sein, dass die Evolution unser Wahrnehmungssystem so fein ausgebildet hat, dass wir eine regelrechte Lust auf komplexe, aber permanente oder langfristige Klangkulissen haben, vor denen sich dann bestimmte Ereignisse abbilden, auf die wir dann mit unserer Aufmerksamkeit gelenkt werden.
Leitner:
Es ist ja kein Zufall, dass das Wasser in allen Kulturen so eine wichtige Rolle spielt. Nicht nur als Wasser, weil es den Boden fruchtbar macht, sondern als primäres akustisches Material, als Rauschen, aber auch als Raumgestalter. Auch in der Alhambra: Wenn es durch die Räume fließt, das ist so unglaublich schön, weil es dem Raum eine bestimmte klangliche Qualität gibt. Ich glaube, dass unser Gehirn die Nuancen sucht und sehr genau registriert in einer Art und Weise, die wir überhaupt nicht kennen.
Was ein ganz entscheidender Punkt in der ganzen Entwicklung der Kunst ist, die sich mit Klang beschäftigt, ist natürlich die Erfindung des Samplings. Durch das Sampling kann ich nun wirklich Naturgeräusche, aber auch Klänge mit klassischen Instrumenten so aufnehmen und bearbeiten, dass ich eine Palette von unendlichen Möglichkeiten habe und in der Gestaltung einen unglaublichen Reichtum, den es vorher nie gegeben hat. Die ganze elektronische Kunst ist Steinzeit dagegen, was uns heute durch viele, Hunderte, ja Tausende Ingenieure als intelligente Leistung, als Vorarbeit zur Verfügung steht. Ich halte das für etwas ganz Wunderbares.
Schulz:
Die Möglichkeiten der Gestaltung mit Hilfe des Computers sind enorm angewachsen, aber angewachsen ist auch die Schwierigkeit, etwas Gutes, Lesbares durch die Darstellung zustande zu bringen.
Leitner:
Völlig richtig. Ich glaube, wir stehen vor ganz neuen Herausforderungen, wo das Entscheiden können über das unendliche Material, was man zur Verfügung hat, immer wichtiger wird. Wie komme ich zu Entscheidungen, wie komme ich zu Erfahrungen, die mich dann zu Entscheidungen führen. Wir müssen viele Annäherungen an die Kunstproduktion überdenken und wirklich neu sehen.
Schulz:
Ich möchte noch einmal einen konkreten Blick auf Ihre Arbeit werfen. Man kann ja, wenn man will, grob drei Kategorien unterscheiden, einmal Klangräume, die Sie gestalten, indem Sie gebaute Räume benutzen und nur verändern, damit in ihnen mit technischen Hilfsmitteln, die Sie verwenden, eine ganz bestimmte neue Akustik herrscht, wie z. B. beim Ton-Raum in der Technischen Universität Berlin. Dann gibt es eine ganze Reihe von Arbeiten im öffentlichen Raum, wo Sie Architekturen extra bauen für Ihre Installationen, und es gibt mehr skulpturale Werke, die auch transportabel sind und an unterschiedlichen Orten eingerichtet werden können. Es gibt den berühmten Begriff der Installationskunst ‘in situ’, wobei In-situ-Arbeiten an ganz bestimmte Orte und Atmosphären gebunden sind, weil sie sich mit diesen verschränken. Ein paar Worte dazu: Gibt es ein Feld, auf dem Ihre ganz besondere Leidenschaft liegt? Jedenfalls hat man den Eindruck, dass das Formdenken des Architekten in Ihrer Arbeit nicht nur hörbar ist, sondern auch sichtbar.
Leitner:
Das Vokabular, das ich entwickelt habe in den späten 60er- und frühen 70er-Jahren, ist an sich an keinen Maßstab gebunden. Es ist eine abstrakte Idee, die sich in verschiedenen Größenordnungen realisieren lässt. Ein körperbezogenes Objekt, wie die Tonliege oder der Vertikale Raum für eine Person bis zu großen urbanen Installationen, wie z.B. ein Tonfeld in Wien vor dem IBM-Gebäude, das immerhin 60 x 40 m als Feld abdeckt. Das Gleiche gilt für die visuelle Rahmung, oder Umsetzung oder Führung. Das kann von Entwürfen wie dem Cylindre Sonore, wo die Architektur praktisch als Grundstruktur der Klangräume auch von mir entworfen wird, die Klangarchitekturen sich wie eine sekundäre Architektur über eine Primärachitektur drüberlegen. Oder es kann sozurückgenommen sein, dass man praktisch die Struktur nicht sieht oder dass sie sehr stark zurücktritt. Grundsätzlich ist mir aber die Erscheinung eines Klangraumes sehr wichtig. Je länger ich auf diesem Gebiet arbeite, desto mehr fasziniert mich auch diese komplexe Verknüpfung der verschiedenen Sinne, die nur im schulischen Denken so auseinander gehalten werden, auch im wissenschaftlichen Denken – die aber im künstlerischen Denken, vor allen Dingen in der ästhetischen Erfahrung – zusammenwirken in einer Art und Weise, die wir zum Teil gar nicht kennen. Viele Annäherungen zu dieser Komplexität passieren unbewusst, aber das Auge und das Ohr teilen sich gegenseitig Sachen mit. Ich mache diese visuellen, formal durchdachten und auch strengen Sachen nicht, um ein Design zu liefern für eine Klanginszenierung, sondern um in einer prägnanten Form den Klang auch schon für das Auge sichtbar zu machen. Für mich ist wichtig: Wenn eine Arbeit nicht in der Zeit erlebbar ist, dann ist sie nicht weg, dann schweigt sie nur, das tut sie in der Form.
Schulz:
Es gibt eine Reihe von Klangkünstlern – vielleicht ist Rolf Julius hier als erster zu nennen – die u. a. in der Tradition von Cage sich sehr intensiv mit der Stille beschäftigen. In der neuen Musik ist es auch so, dass z. B. die Pausen eine große Rolle spielen. Das, was sozusagen eine Wartehaltung, eine besondere Form der Aufmerksamkeit erzeugt, das Warten auf das nächste überraschende Ereignis. Es hat den Anschein, dass Sie nicht so sehr die Stille und die Pause gestalten.
Leitner:
Das kommt daher, dass ich nicht von der musikalischen Komposition her komme, sondern eher Räume oder Raumzustände schaffe, die keine Zeitgliederung – sei es im klassischen oder im Cage’schen Sinn – haben. Das heißt aber nicht, dass das Material nicht bearbeitet wird. Wir haben vom Wasser gesprochen, und ich habe die Mathematik der Aleatorik erwähnt, die ich für sehr wichtig halte, weil das andere Ordnungsprinzipien sind. Wenn ich ein Material verwende und mit einer aleatorischen Formel zu einem Gewebe verarbeite, mit einer mathematischen Formel, dann entsteht eine Ordnung, die faszinierend ist, aber nicht von mir durch eine Komposition entstanden ist. Diese Ordnungsprinzipen, die auch im Wasser sind, wie ich es erwähnt habe, die man schon nachvollziehen könnte, wenn man viele komplizierte Gleichungen aufstellen würde, die scheint mir für die Lebendigkeit und Komplexität einer Arbeit für sehr wichtig und entscheidend. Ich komme wirklich nicht von der musikalischen Komposition. Die meisten Klangkünstler kommen von der Musik und der Komposition her, mein zentrales Interesse war der Raum – selbstverständlich wurde der Klang , das Gestaltungsmaterial selbst immer wichtiger. Noch ein Beispiel zum Maßstab: Es kommt eine neue Arbeit im Herbst heraus, eine AudiooCD, die heißt Kopfräume. Das sind Räume, die nur für den Kopf komponiert, konstruiert wurden. Man kann sie auch nur über Kopfhörer hören. Wölbungen, freie lineare Bewegungen im Kopf, man schaut und hört in den Kopf hinein als wäre er eine hohle Kugel. Es entstehen Räume, die durch das Gehirn hindurchgehen, als wenn es kein Gehirn gäbe. Also nicht Reproduktion von Musik im Kopf, sondern dreidimensionales Gestalten im Kopf. Kopfklangräume.
Schulz:
Es gibt auch eine lange Tradition der Auseinandersetzung mit dem, was man als geräuschhafte Umweltverschmutzung bezeichnet, von Georg Picht Anfang der 70er-Jahre bis hin zu einem Ihrer früheren jüngeren Mitarbeiter, oder Schüler – könnte man sagen – Robin Minard, der regelrecht ankämpft gegen die akustische Umweltverschmutzung mit seinen Arbeiten und die Utopie vertritt, mit gestalteten öffentlichen Klangräumen wieder so etwas wie das Soziale im öffentlichen Raum gegen die Lärmbelästigung zu retten. Wie stehen Sie dazu? Vielleicht gehören Sie auch zu denjenigen, die sagen, alles ist möglich. In der Tat, technisch ist alles möglich. Man kann mit der Technik die Akustik verändern.
Leitner:
Ich denke, auch aus eigener Erfahrung, ich habe viele Erkenntnisse durch Arbeiten gewonnen, die ich vorher nicht hatte, besonders mit Arbeiten im öffentlichen Raum. Eine dieser Erkenntnisse war, dass man in einem Tonfeld neben einer verkehrsreichen Straße bei einem bestimmten Programm das Gehirn so interessiert und neugierig macht, dass es sich für das Tonfeld entscheidet und nicht für die lärmende Straße. Ein geordnetes akustisches Feld oder ein Raum in einer lärmenden urbanen Zone, das kann ich mir wohl vorstellen, dass das funktioniert.. Man kann in einer Lärmzone durch einen ästhetisch gestalteten Klangraum eine völlig andere Wahrnehmungssituation, die positiv aufgeladen ist, erzeugen . Ob man dadurch in unserer heutigen Welt und besonders in den Städten eine soziale Dimension mitgestalten kann, da habe ich meine Zweifel. Da scheinen zu viele Bedingungen, die mit Akustik und Klang nichts zu tun haben, mitzuspielen..
Schulz:
Es wird schwer sein, gerade wenn man Ihre Forschung nimmt, die klar macht, dass die Schallwellen nicht nur durch das Ohr zum Gehirn gehen, sondern auf den ganzen Körper treffen. Man kann alles Mögliche machen durch die Technik im Stadtraum aber man kann nicht die langwelligen Schallwellen, die durch Beton hindurchgehen und auf den Körper auftreffen abschirmen.
Leitner:
Das ist richtig. Aber das wären wieder nur physikalische Aspekte. Ich denke auch an kompliziertere Sachen wie wirtschaftlich Phänomene und politische, die ganze Palette der Verwirrungen unserer heutigen Zeit.
Schulz:
Und das weltumspannende System von Muzack wird auch nicht abgebaut, das nimmt eher zu, diese Musikberieselung.
Leitner:
Das wirklich unangenehme an Muzack ist, und das weiß man aus den 50er-Jahren, wo es in Amerika bewusst eingesetzt wurde, dass man damit die Menschen im Rhythmus des Tages zum Arbeiten angeregt, dann wieder etwas entspannt, man hat sie praktisch im Sinne der kapitalistischen Ausbeutung durch die Musikbeschallung manipuliert. Und das ist auch der Sinn dieser Musikteppiche. Interessant ist aber – glaube ich –, dass die Neugierde heute, wo die akustische Lärmverschmutzung, der ganze Müll, schon so enorm geworden ist, dass hier jetzt die Neugierde wächst. Viele Leute beginnen nachzudenken, was ist überhaupt unser Hörsinn, was können wir damit machen. Der wurde wirklich 150 - 200 Jahre eigentlich übersehen, negiert. Wir leben in einer visuellen Kultur, spezifisch gilt das für die Architektur, die seit 200 Jahren keinen Traktatus über das Hören, über den Klang von Räumen herausgebracht hat. Die ganze Diskussion über Architektur läuft über das Visuelle. Das ist symptomatisch, würde ich sagen. Auch da gibt es neue Ansätze, die finde ich sehr ermutigend, dass man sich nicht nur über das Licht besser informiert, da ist viel passiert, sondern dass man auch das Klingen eines Raumes und die Klanggestaltung von Raum beachtet, weil der Körper letztlich seinen Raumbezug über das Akustische findet und nicht über das Auge. Das Akustische ist 360 Grad in allen Richtungen.