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"Die Vereinigung zwischen Architekt und Ingenieur muß untrennbar sein. Die Lösung wird erst dann wirklich, vollständig, fruchtbar sein, wenn Archi­tekt und Ingenieur, Künstler und Wissenschaftler in einer Person vereinigt sind."
(Enzyclopedie d' architecture, 18781)


Dieter Ronte

 
Katalog zur Ausstellung im Museum moderner Kunst Wien, 1981
  

 

Der französische Philosoph, Mathematiker und Physiker Blaise Pascal (1623-1662) hat in seinen Reflektionen unser Wissen mit einem Kreis verglichen; je größer der Radius wird, desto größer werden die Berührungspunkte mit dem Unbekannten. Der bildende Künstler, folgen wir dieser Maxime, ist der Spezialist der Ästhetik in diesem tangentialen Bereich unseres Wissens. Er baut auf dem bereits Erforschten auf, um den Kreis zu dehnen, um neue Möglichkeiten zu realisieren und weitere für die Zukunft zu ermöglichen.

Bernhard Leitner, von der Ausbildung her Architekt, versteht den eigenen Aktionsradius nicht in der disziplinären Beschränkung, sondern im interdisziplinären Zusammenspiel. Sein Werk ist nach der klassischen Definition der Künste einem Zwischen be reich zuzuordnen, in dem sich Ideen aus Architektur, Skulptur und Musik überlagern; ein Grenzbereich der Medien, der eng mit Problemen der Technik, aber auch mit Vorstellungen der Bewegung (Tanz, Schreiten), der Ruhe (Liegen) und vor allem mit Kreativität und Imagination verbunden ist.

Leitner hat die erprobten Wege verlassen, um in einem völligen Neuland Erfahrungen zu sammeln und zu vermitteln. Er schafft neue Ausdrucksformen, deren Vokabular erst entdeckt und artikuliert wird. Er zeigt Richtungen auf durch ein CEuvre, das sich noch im Frühstadium trotz vieler Jahre Arbeit befindet; durch Werke, die nicht absolut zu verstehen sind, sondern als exemplarische Beispiele zu einem grundsätzlichen Beitrag für eine sich entwickelnde Gestaltung.
Wo immer im Bereich der Sinne, der Ästhetik also, künstlerische Innovationen untersucht werden, ist das Museum heute der "intentionale
Ort" der Kunst (J. Cladders2). Es ist die Institution, welche die Gesellschaft für diese zunächst wertfreien Artefakte, die apriori keinem Gesetz der Verwend­barkeit und des Konsumzwanges unterliegen, ausgewiesen hat. Dies bedeutet ebenso Isolation wie Öffentlichkeit, Abhängigkeit durch die Institution wie Garantie zum Experiment, Integration ebenso wie Infragestellen der im Museum enthaltenen analytischen Ordnungsprinzipien.

Verlassen wir die Verallgemeinerung und befragen wir dezidierter die Ton-Räume Leitners mit ihren Grenzverschiebungen:

• Der Künstler entwirft Räume, die ihrerseits schützende, umhüllende Räume brauchen. Seine Architekturen und skulpturalen Gebilde definieren und bestimmen den Museumsraum neu.

• Die neuen Räume sind Ton-Räume, die sich ihrerseits durch das akustische Material definieren. Der Baustein Ton ist kein Ziegelstein, sondern Element einer neuen Raumbestimmung, einer in der Zeit sich verändernden räumlichen Abgrenzung ohne die Statik der Museumsarchitektur.

• Die grundsätzliche Idee basiert nicht auf Bau-Statik, sondern auf dem Vokabular der Tonwelt, der Dynamik, der Frequenz, der Lautstärke, der Farbe des Tones.

• Den in sich geschlossenen Artefakten der Sammlungen wird das Kunstobjekt gegenübergestellt, das erst in der Zeit, in der Chronologie erfahrbar ist.

• Dem Wunsch nach dem Schauen auf Bilder und Skulpturen im Museum entspricht Leitner nur in der Form, der "Verpackung". Seine Werke zwingen den Betrachter zu eigener Aktivität. Aus passiver, gedanklicher Rezeption wird animatorische Integration des Menschen.

• Die historische Eingebundenheit der Museumsgegenstände hebt Leitner durch seine a-historischen Objekte auf. Der Rückblick in die Geschichte weist lediglich gedankliche Ansätze aber keine vergleichbaren Denk- und Gestaltungsstrukturen auf.

• Der Besucher wird mit Unbekanntem konfrontiert. Werktitel wie Raum-Wiege oder Kreuz-Raum sind assoziative Hilfsmittel, keine ikonographischen und ikonologischen Festsetzungen. Der Benutzer kann/muß unabhängig von seinem historischen Wissen und seinem kulturellen Kontext mit den Ton-Räumen arbeiten.

• Die Reflektion im Museum der bildenden Kunst erfolgt primär durch die Retina. Leitners Arbeiten sprechen den Bereich mehrerer Sinne an. Physische Erfahrungen und Erfahrbarkeit verwirklicht sich nicht nur durch die Augen, sondern durch den gesamten Körper (Bio-Akustik).

• Ton-Räume sind vielgestaltig programmierbar. Der Künstler kann sie beliebig nach seinen Vorstellungen verändern. Jede Arbeit ist ein Instrument, um verschiedene emotionale Gehalte zu formulieren.

• Leitner arbeitet mit neuen, sich rasch weiterentwickelnden Technologien; der der Mikro­prozessoren in der Schalttechnik. Die klassischen Materialien der Kunst werden überflüssig. Diese Kunst ist von der Technik abhängig. Technisches und wissenschaftliches Know-how werden unmittelbar ästhetisch umgesetzt.

• Der Aufwand, die Instrumente Leitners zu realisieren, ist groß. Das Risiko trägt zunächst der Künstler, das Museum ist die einzige Institution, die helfen kann; nicht dagegen die Privatgalerie, der Kunstmarkt. Die Kunst Leitners ist, weil sie interdisziplinär und grenzverschiebend und -erweiternd ist, auf das Museum angewiesen, wobei sie ihrerseits wieder die Begrenzungen des Museums aufhebt.

• Das Museum wird zum "Labor: die Öffentlichkeit wird gebeten, an den Experimenten teilzu­nehmen" (Alfred H. Barr, Jr.3).

Leitner untersucht Grenzbereiche und -verschiebungen, die so viele Fragen und Antworten aufwerfen und implizieren, daß es noch lange nicht möglich sein wird, sein CEuvre vollständig analytisch auszuwerten. Leitner setzt Zeichen und Maßstäbe für die Architektur, die Skulptur, die Kinetik, die performance, die Musik und die Technik ebenso wie für die Kunstgeschichte, die Rezeption von Kunst, die kulturelle Animation, die Pädagogik, die Physiologie und die Psychologie. Er recherchiert mit der wissenschaftlichen Neugier eines Künstlers, der im Sinne einer ungebun­denen, autonomen Ästhetik aller Künste arbeitet. Es ist vorstellbar, daß seine Erfindungen, die Ton-Räume nicht mehr im Frei-Raum des Museums sozusagen patentamtlich geschützt sind (wobei das Copyright selbstverständlich beim Künstler bleibt). Nur im Museum wird Innovation nicht sofort zur Manipulation.

Wien, Frühjahr 1981


1) Zitiert nach: Design ist unsichtbar, Österreichisches Institut für visuelle Gestaltung, Wien 1981, S. 117.
2) Vergleiche: J. Cladders, Das Museum als Ort der Kunst, in: Kunst wofür? - Publikum, Museen, Handel, Politik, 2. Öster­reichgespräch, Wiener Schriften, Heft 46, Wien 1981, S. 20ft ..
3) Zitiert nach: Das Museum of Modern Art zu Gast in Wien, Museum moderner Kunst, Wien 1979/80, S. 15.