Detlef B. Linke
Bernhard Leitners KOPFRÄUME
Es gibt Geräte mit denen man Stoßwellen zur Zertrümmerung von Nierensteinen im lebendigen Organismus erzeugen kann. Diese sogenannten Lithotripter können große Schwingungsenergien auf einen gewünschten Punkt in Körper fokussieren. Diese tiefstfrequenten Wellen müssen vom Organismus gar nicht wahrgenommen werden, um ihr Werk in seinem Inneren zu verrichten.
Anders ist es bei den normalen Schallwellen. Sie gelangen über die dafür vorgesehenen Öffnungen in den Organismus, treten in den Steigbügel des Mittelohrs, kriechen durch die Schnecke des Innenohrs und werden –längst verwandelt—von den Haarzellen in die Hörbahn „gefeuert“. In der Gestalt von Nervenimpulsen berichten sie in Hirnstamm und Großhirn von den Ereignissen der Außenwelt. Die tonotop, nach Tonhöhe entfalteten Cortexareale machen sich ein Bild von dem Gelärme der Außenwelt auch wenn nie ein wirklicher Schall sie je erreicht. Im Gegenteil, würden die Hirnzellen selber in stärkere akustische Schwingungen geraten, so wären sie nur in ihrem Geschäft gestört, bei der Erzeugung von Klangvorstellungen dabei zu sein. Wo aber liegen nun diese Klang-vorstellungen, die ohne Zweifel mit der Tätigkeit bestimmter Hirnareale (Vierhügelplatte, Heschl’sche Windungen, Inselregion) in Beziehung stehen? Sind sie in den Hirnzellen, ja sind sie überhaupt im Kopf oder sind sie sogar außerhalb des Kopfes? Manche sagen, dass sie Hörvorstellungen nach außen projiziert werden. Allerdings hat noch niemand gehört, wie etwas aus dem Kopf heraustönt, wenn es nach außen projizert wird. Oder ist die Projektion eine Art Täuschung und der Klang bleibt doch drinnen und tut nur so, als ob er außen wäre? Wie stellt man sich die Projektionsmechanismen vor? Zumeist wird angenommen, daß der Seelenraum ein ganz anderer ist als der körperliche, und daß die auditive Wahrnehmung einen Raum aufbaut, der durchaus auch als Refe-renzraum für die Lokalisation des Wahrnehmenden benutzt werden kann. Die Lokalisation (1) von Schallereignissen im Wahrnehmungsraum erfolgt nach den Ergebnissen der Neurophysiolgie so, daß im Frequenzbereich von unter 500 Hz die Schallwellen wegen ihrer größeren Länge besser in den Bereich des Kopfschattens gelangen können. Die Frequenzen werden nur hinsichtlich ihrer Phasendifferenz zum gegenüberliegenden Ohr verrechnet. Hierbei können Verschiebungen im Zeitbereich von noch 60 Mikrosekunden berücksichtigt werden. Wellenlängen oberhalb 1200 Hz werden zunehmend kürzer als die Differenz zwischen beiden Ohren, sodaß sie für Differenzberechnungen zur Lokalisation weniger in Frage kommen. Die kleinen Echos, welche der einfalllende Schall an der Ohrmuschel erzeugt, können auch für die Ortung herangezogen werden. Für den Cocktailparty-Effekt, der darin besteht, daß man aus vielerlei Gesprächen eine Stimme gezielt heraushören kann, sind natürlich auch komplexere semantische Mechanismen mit verantwortlich. Zur lokalisatorischen Klärung kann auch der Einsatz von Kopfbewegungen vieles beitragen. Dieser Mechanismus fällt bei der Benutzung von Kopfhörern naturgemaß aus. Dadurch kann es hierbei zu einem Phänomen kommen, daß die Technik zumeist vermeiden will, welches Leitner jedoch mit einem ganz besonderen Gespür für die Ontologie des „Unscheinbaren“ in seinen Kopf-Raum-Stücken kunstvoll inszeniert:
Die Im-Kopf-Lokalisation. Es wäre nicht das erste Mal, daß hier etwas als brisant und hoch-bedeutsam erkannt wird, was aus anderer Sichtweise sein Dasein nur als Störeffekt fristen könnte.
Leitner weist mit seinem Ton-Raum-Stücken darauf hin, dass nicht nur das Akroamatische innen geschieht, sondern auch unsere Nach-Außen-Projektion einen Innenraum zu benutzen vermag. Dann muß man jedoch fragen, ob in dem, was wir Innen nennen, nicht zu vieles aneinanderstößt und ob „Innen“ nicht auch eine Metapher für etwas anders gar nicht Bezeichenbares sein könnte. Was ist denn nun innen: Die Seele (2), das Gehirn oder ein Projektionsraum für Schallwahrnehmungen? Ist innen, wo wir unsere Seelenwelt beheimatet haben auch der freie Spielraum der Schallereignisse? Geht der Ton in uns ein und aus als ob wir keinen Torhüter hätten, der darauf hinwiese, dass innen die Seele ist und der Ton sich nur als seelischer innen und als physikalischer außen bewegen darf? Hier werden offenbar unsere verhärteten Vorstellungen über Innen und Außen in Schwingungen (3) versetzt. Wo ist das Ich, wenn der Klang Innen and Außen gleichermaßen besetzen kann? Ist das Ich vielleicht nur eine willkürliche Verkrustung der zwischen Innen und Außen grenzenlos wie der Klang hin und her wandernden Seele? Ist das Ich ein Verhärtungskomplex aus Kalk, Kruste und Gold, in dem das Reine erst freigemacht werden müßte.
Das reine Denken sucht nach Möglichkeiten, in einen Körper zu steigen. Der Aufbau der Innen-Außen-Dichotomie stellt einen ersten Schritt hierzu dar. Der Versuch, auch noch die Leiblichkeit zu gewinnen, ist mannigfaltig. Sogar mit dem Kopfgefühl, das sich beim Denken einstellt, hat man es versucht (4). Natürlich handelt es sich hierbei nur um die Wahrnehmung der lokalen Veränderungen der Hirndurchblutung während des Denkens, die über die vegetative Hirngefäßinnervation erfolgt. Das Gehirn nimmt sich wohlweislich nicht wahr, um nicht in Paradoxien der Wahrnehmung zu gelangen (es hätte sich sonst als Wahrnehmendes wahrnehmen müssen und könnte dabei die Wahrnehmungsebene verwechseln, ein Sicherungsverfahren, von dem hier und dort auch in der Philosophie Gebrauch gemacht wird). Dieses Wahrnehmungsdefizit hinsichtlich des Organs, welches bei allen unseren Wahrnehmungen beteiligt ist, erschwert es, den Ort zu verstehen, an dem sich der Geist aufhält. Es war eine große Enttäuschung für die ersten Anatomen, nach Öffnung des Schädels nicht die luftige Seele, sondern das Gehirn zu finden. Flugs beeilten sie sich, die luftgefüllten Hirnkammern als Ort der Psyche, des Hauchs, anzusehen. Die Schädellehre konnte diese Schädelleere jedoch nicht für die Neuzeit bewahren. Wie aber können alle die Gestalten sich, sei es im Hauch, sei es im Gehirn, im Schädelinnern aufgehalten? Insbesondere, wenn wir jetzt auch noch sehen, dass innen der Klang ist, und zwar nicht der Klang eines pathologisch pulsierenden Gefäßes, wie er sich bei Hirngefäßmißbildungen finden kann, sondern der Klang, welcher den Hauch durchweht und der wie eine Stoßwelle, die dem Hauch entgegenstehenden Steine beiseite fegen kann. Hier, in den Kopf-Raum-Stücken wird die Architektur wieder zum Klang. Die Steine verwandeln sich wieder in die Saitenklänge des Amphion und weisen auf einen größeren Weltenbau, der sich in der Harmonie der Hirnhemisphaeren nur manifestiert. Das Kopfgefühl ist kein ausreichender Anhalt für die Lokalisation unserer Ortlosigkeit. Die Kopf-Raum-Stücke zeigen uns erst recht, dass wir nicht der Ort sind, an dem wir uns aufhalten, ja dass wir nicht einmal wissen, an welchem Ort wir uns aufhalten. Unser Ortungssinn, aus evolutionärer Sicht lange geschult am Eindringlichen und Abzudrängenden, muß feststellen, dass das Andere bereits in unserer Tiefe drin ist. Flucht und Abwehr sind hier nicht möglich. Hier kann nur helfen, die Metapher des Innen aufzugeben. Doch was ist es, was sich unter dem Zeichen des Innen verbirgt? War es ein bloßes Nichts oder das Nirgendwo? Vielleicht hatte der Dichter recht und er muß nur noch stärker bestätigt werden: Das Nirgends wird Welt sein als Innen.
1. Zur Ingenieurstechnik and Neurophysiologie der Im-Kopf-Lokalisation, siehe Plenge, sowie J.M. Burchard, E. Irrgang und B.Andresen: ‚Das äußere Ohr des Menschen als schallverdoppelndes Organ.‘ – Sprache, Stimme, Gehör 9/198,) S.100-103 und W. D. Keidel: ‚Physiologie des Gehörs.‘ – Kurzgefaßtes Lehrbuch der Physiologie,
Hg. W. D. Keidel, Stuttgart: Thieme, 1967ff.
2. Zur Beziehung von Seele und Gehi rn siehe auch: D.B. Linke: ‚Philosophie des Gehirns.‘ – Philosophia naturalis, 19/1982, S. 342-349 und D.B. Linke und M. Kurthen: Parallelität von Gehirn und Seele, Stuttgart: Enke, 1988
3. Zur Frage der Beziehung von Klang und Raum siehe B. Leitner: Ton : Raum, Köln: Dumont, 1978 und D. B. Linke, B. Reuter, M. Kurthen: ‚Space built out of time‘ – Musik in der Medizin, Hg. R. Droh, R. Spintge, Berlin/Heidelberg: Springer, 1987
4. I. Kant: ‚Träume eines Geistessehers erläutert durch Träume der Metaphysik.‘ – Kants Werke, Akademie-Textausgabe Bd. 2, Berlin/New York: de Gruyter, S. 325, sowie L. Wittgenstein: ‚Bemerkungen über die Philosophie der Psychologie‘, Werkausgabe Bd. 7, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1984, §§ 350-352
Prof. Dr. med. Detlef B. Linke (1945 - 2005) war Professor für klinische Neurophysiologie und Neurochirurgische Rehabilitation an der Universität Bonn.